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Pierre Nic Enichté: Wie man einer Psychologin die Liebe erklärt. 470 Seiten, Hardcover kaschiert, Fataller.
Wie sagt man einem Menschen, dass man ihn liebt? Das ist vielleicht eine der ältesten Fragen der Welt. In vielfachen Variationen durchzieht sie die Literaturgeschichte. Pierre Nic Enichté lässt daraus, mit unnachahmlichem Gespür für besondere Konstellationen, einen wunderbar facettenreichen Roman entstehen. Eine Liebeserklärung müsse doch ganz anders sein, so lässt er seinen Protagonisten sinnieren, wenn sie einer Frau gemacht werde, die die Mechanismen des Seelenlebens kennt. Der Beginn einer subtil unkonventionellen Liebesgeschichte, so empathisch und lebendig wie ihre fein gezeichneten Figuren. Sie nehmen den Leser mit in ihre fantasievoll farbigen und immer wieder überraschenden Gedankenwelten. Berührend.
Es gab sie, die Liebe auf den ersten Blick. Ihre Augen und Ihr Mund, die Art wie sie ihn anschaute, wenn sie ihm etwas erklärte, die wenigen male wo er direkt neben ihr saß und nicht einige Stuhlreihen entfernt und nur mit Blick auf ihren Rücken, wie meist in den Seminaren und Vorlesungen. Doch selbst den Blick auf den Rücken mochte er. Und wenn sie ganz anders ausgesehen hätte, ihre Haare schwarz statt blond, ihre Augen dunkelbraun statt tiefblau gewesenen wären, er hätte sich in sie verliebt, da war er sich sicher. Es war ihr Wesen, das ihn faszinierte. Ihre so präsente äußere Erscheinung war nur die aktuelle Form, in der sich die wunderbare Art ihres inneren Wesens ausdrückte. Doch wie sollte er ihr das erklären?
Sie war Psychologin und das war das Problem. Vielleicht war auch noch etwas ganz anderes ein Problem, das konnte durchaus sein, aber er machte alle Probleme daran fest, dass sie Psychologin war. Wir konnte er ihr erklären was in ihm passierte, wenn er sie sah? Das war nicht mit einem Fragebogen zu erfassen. Da gab es kein einfaches Erklärungsmuster von Reiz und Reaktion, keine statistische Korrelation. Alles in ihm bebte, selbst wenn er sie nur von weitem sah. Alle seine Gedanken galten ihr. Sie leuchteten durch den Tag.
Manchmal dachte er, dass es einfach nur so und immer so belieben musste und er traute sich gar nicht sich zu bewegen, nicht einmal einen neuen Gedanken zu haben oder seinen Blick zu verändern. Es könnte es nur zerstören, platzen lassen, zu Staub zerfallen machen. Er wünschte sich, eine ägyptische Mumie zu sein, fest eingewickelt in mit wertvollen Salben getränkten Bandagen und von konservierenden Harzen durchtränkt, eine Ewigkeit in ihrem Blick. Dabei schaute sie nur ganz selten zu ihm herüber, oder, was viel wahrscheinlicher war, zu der Uhr, die über der Tür hing. Ja, wahrscheinlich schaute sie nur auf die Uhr und wenn die Vorlesung zu Ende war, ging sie schnell, denn sie hatte noch ein Seminar auf dem anderen Campus und da wollte sie nicht zu spät kommen.
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